SELEKTIVE ERINNERUNG. DER ZWEITE WELTKRIEG IN DER UKRAINE IM HISTORISCHEN GEDÄCHTNIS DER RUSSLANDDEUTSCHEN

2019 
Der Zweite Weltkrieg stellt bis heute den zentralen Bezugspunkt jener Gruppe dar, die in der Forschung zumeist unter dem Begriff der «Russlanddeutschen» subsummiert wird. Insbesondere die kollektiven Zwangsumsiedlungen, die mit dem Erlass des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 einsetzten und im Zuge derer bis Ende 1941 rund 900 000 Menschen nach Sibirien und Kasachstan umgesiedelt wurden und rund 150 000 Menschen durch Aussiedlung, Hunger oder Zwangsarbeit starben, bilden den Kern eines Opfernarrativs, das durch russlanddeutsche Verbande und ihnen nahe stehende Historiker*innen mit einem in hohem Mase emotional besetzten Absolutheitsanspruch vertreten wird. Das ist angesichts der leidvollen Erfahrung sehr verstandlich, fuhrt jedoch andererseits auch dazu, dass all jene Facetten der Geschichte ausgeblendet werden, die nicht dieser Interpretation entsprechen. Deutlich wird das an den ukrainischen Gebieten: Wahrend die deutschsprachige Bevolkerung in der ostlichen Ukraine von der stalinistischen Zwangsumsiedlungspolitik erfasst wurde, wirkte sie im Westen und den zentralen Teilen des Landes an der deutschen Besatzungs- und Vernichtungspolitik mit. Hier geht es mithin um die Frage der Ausmase einer Tater-, und keiner Opfergeschichte. Ihre Erforschung weist zahlreiche Desiderate auf, und im «offiziellen», kulturellen Gedachtnis der Gruppe kommt sie bisher kaum vor. In dem Beitrag wird die Entwicklung der russlanddeutschen Erinnerungsund Geschichtspolitik an die Zeit des Zweiten Weltkriegs in der Ukraine nachgezeichnet und einer kritischen Reflektion unterzogen werden. Es werden drei Grunde fur die Entwicklung eines selektiven Erinnerns benannt: Die Geschichte der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, die gesetzliche Anerkennungspraxis der Bundesrepublik Deutschland und die sowjetische Erfahrung der Menschen. Zugleich sind die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs in der Ukraine in den  Familiengedachtnissen schwarzmeerdeutscher Familien bis heute sehr prasent. Dies wirft die Frage auf, wie ein vollstandigeres, auch Widerspruche beinhaltendes Erinnern an den Zweiten Weltkrieg aussehen konnte. Hierzu werden abschliesend Perspektiven einer Offnung des russlanddeutschen kulturellen Gedachtnisses zur Diskussion gestellt. Schlagworter: Russlanddeutsche, Schwarzmeerdeutsche, Migration, Zweiter Weltkrieg, «Volksdeutsche», Kulturelles Gedachtnis, Selektive Erinnerung, Heterogenitat.
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