Das zerrissene Jahrhundert. Zur Werk- und Wirkungsgeschichte von Wolfgang Mattheuers Plastik „Jahrhundertschritt“

2005 
„Da hat er uns wieder mal einen ordentlichen Sprengsatz untergeschoben!“, lies ein leitender Kulturfunktionar der SED-Bezirksleitung mit gepresster Stimme vernehmen, als er wahrend seines Rundgangs durch die 11. Kunstausstellung des Bezirkes Leipzig Anfang Mai 1985 auf die Plastik „Jahrhundertschritt“ von Wolfgang Mattheuer sties. Und so oft sich Funktionare in der Geschichte der DDR in Sachen Kunst irrten - hier sollten sie einmal Recht behalten, und zwar im doppelten Sinn des Wortes: Wie aufgesprengt wirkt nicht nur der schrundige, eingerissene Brustkorb von Mattheuers ‚kopfloser‘ Figur; Sprengkraft enthielt vor allem die kunstlerische Botschaft des Werkes, in dem der Kunstler das 20. Jahrhundert Gestalt werden lies. Die vier Gliedmasen der Figur streben so heftig auseinander, dass sie diese schier zu zerreisen drohen: Den rechten Arm zum faschistischen Grus ausgestreckt, die linke Hand zur proletarischen Faust geballt, hinkt das von einer Blutspur gezeichnete linke Stiefelbein dem ungestum ausschreitenden, makellos weisen rechten Bein unheilschwer hinterher. „Symbolhaft“ hat Mattheuer in dieser Plastik „die Unsicherheit und Zerrissenheit unserer Zeit eingefangen“. Und da der nahezu gesichtslose Kopf der Figur fast vollstandig in ihrem aufgerissenen Rumpf zu versinken droht, fehlt diesem Jahrhundert zugleich die (geistige) Mitte, die es zusammenhalt. „Verlorene Mitte“ und „Verlust der Mitte“ heisen denn auch zwei Grafiken, mit denen Mattheuer 1980 das Ringen um diese Figur aufnahm.
Keywords:
    • Correction
    • Source
    • Cite
    • Save
    • Machine Reading By IdeaReader
    0
    References
    0
    Citations
    NaN
    KQI
    []