Die Dekonstruktion der Krisensemantik: Soziologische Theorien Gesellschaftlicher Pathologien

1993 
Der in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts vollzogene Terrainwechsel des Krisen-Topos spiegelt die Erschopfung der in ihm transportierten Sinnressourcen. Beide Varianten dieses Terrainwechsels konvergieren daher in der Konsequenz jener Erfahrung, die sich in der Desillusionierung geschichtsphilosophischer Hoffnungen ihnen schrittweise aufgedrangt hat: dem Verlust sozialer Transzendenz. Allerdings blenden beide den Tatbestand dieses Verlusts auch wieder aus, indem sie Sinnmodelle konstruieren, die an die Stelle der verlorenen Transzendenz treten — als ein in der asthetischen Erfahrung gewonnener Entlastungseffekt bei Burckhardt und Nietzsche, als eine nur durch Verdrangung noch sich erhaltende Motivationsressource im marxistischen Krisendiskurs. Sie bilden eine analytische Optik aus, die noch von der Sehnsucht nach dem Verlorenen durchdrungen ist. Sei es der katastrophische Finalismus Tocquevilles, sei es die Asthetisierung der Geschichte in der historiographischen Erinnerungsarbeit bei Burckhardt, die leere Transzendenz der „Ewigen Wiederkehr“ Nietzsches oder das immer problematischere Verfahren der Hoffnungsbegrundung bei Marx und Engels die soziale Welt der Jetztzeit erscheint stets noch in der Spiegelung auf ein Jenseits, dessen Verwirklichung zwar nicht mehr (oder kaum noch) erhofft werden kann, dessen Ruckprojektion auf eine als vollig sinnleer empfundene Wirklichkeit den Blick des analytischen Beobachters aber dennoch leitet. So kann die Unwirklichkeit des Wunsches sogar noch dann, wenn die Vergeblichkeit des Wunschens erkannt ist, als Masstab des Wirklichen fungieren. Doch geschieht dies nur, weil der desillusionierte Blick die Wirklichkeit zunachst in einer doppelten Konfrontation erfast: im Gegensatz von faktisch Wirklichem und einem ideal Erwunschten, dem normativer Rang zuerkannt wird. Das eigene Hoffnungsbild wird zwar von der Wirklichkeit als Illusion enthullt, doch ist das faktisch Wirkliche dadurch nicht etwa gerechtfertigt. Es wird vielmehr in der Differenz zum vergeblich Erwunschten als Sinnfremdes beschrieben. Zwar erweist das Wirkliche dem Erhofften gegenuber seine uberlegene Starke, aber es wird noch an diesem gemessen — also verurteilt.
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