Die explizite und die implizite Ethik des Psychoanalytikers

2015 
Ethikrichtlinien der psychoanalytischen Fachgesellschaften konzentrieren sich auf Verbote; sie zahlen vor allem auf, was der Analytiker nicht tun darf. Eine positive Bestimmung ethischer Maximen ist aber geboten, denn Psychoanalytiker mussen in ihrem professionellen Handeln eine „Begrundungslucke“ schliesen zwischen ihrem abstrakten Wissen und seiner Anwendung auf den konkreten Einzelfall – mit weitreichenden Folgen fur den Patienten. Zwei Gruppen ethischer Prinzipien lassen sich unterscheiden: „Explizite“ Ethik bedient sich ethischer Maximen, wie sie in der Medizin seit Langerem diskutiert werden: Nichtschadigung, Autonomie, Fursorge, Gleichheit und Gerechtigkeit. „Implizite“ Ethik hingegen grundet in der psychoanalytischen Methode selbst; in ihr erscheinen die Menschenbilder und die unbewussten Vorannahmen der Psychoanalytiker. Eine Durchsicht dieser Konzepte ergab, dass die Maxime der „Wahrhaftigkeit“ offenbar von zentraler Bedeutung ist. Allerdings anderte sich deren Ausrichtung im Verlauf der Geschichte psychoanalytischer Konzepte: Anfangs sollte der Patient ruckhaltlos uber sich sprechen, und der Analytiker enthielt sich jeder Bewertung. Nach der Einfuhrung des interpretierenden Subjekts in die Psychoanalyse verlangte das Prinzip der Wahrhaftigkeit vom Patienten, dass er es wagt, die therapeutische Beziehung fiktional auszugestalten, und vom Analytiker, dass er den Entwurfen seines Patienten nicht widerspricht. Modernere, intersubjektiv ausgerichtete Konzepte verlagern die ethische Anforderung noch weiter hin zum Analytiker: Er soll sich seiner Mitwirkung in der Gestaltung der therapeutischen Beziehung bewusst werden und fahig sein, sich mit dem Patienten auf einen gemeinsamen Beziehungsentwurf zu verstandigen.
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