Soziale Faktoren und "neue Morbidität" bei Kindern und Jugendlichen

2015 
Bei fast allen Krankheitsbildern gibt es einen markanten sozialen Gradienten, d. h. ein steigendes Erkrankungsrisiko bei sinkendem Sozialstatus, auch in „entwickelten“ Staaten mit gut ausgebautem und sozial ausgleichendem Gesundheitswesen. So haben z. B. Erhebungen in England ergeben, dass in den 1990er-Jahren noch immer die Sauglingsund Kindersterblichkeit sowie die Morbiditat an vielen somatischen Krankheiten bei Kindern der untersten Sozialschicht im Durchschnitt etwa doppelt so hoch sind wie in der obersten Sozialschicht. Im Vergleich dazu ist der soziale Gradient bei Storungsbildern der „neuen Morbiditat“ (Abschn. 2) noch deutlich hoher. Nach dem deutschen Kinderund Jugend-Gesundheitssurvey (KiGGS), der endlich nun auch f€ur Deutschland reprasentative sozialepidemiologische Daten erhoben hat, liegt die Risk Ratio sowohl f€ur Verhaltensauffalligkeiten wie auch bei der Adipositas €uber 3. Das heist: Das Erkrankungsrisiko ist bei Kindern der untersten gegen€uber der obersten Sozialschicht um mehr als das Dreifache erhoht. Offensichtlich gibt es also einen ursachlichen Zusammenhang mit Lebensweltbedingungen, die in der unteren Sozialschicht gehauft anzutreffen sind. Bemerkenswerterweise spielt die Schichtzugehorigkeit auch in anderen Zusammenhangen eine entscheidende Rolle: Zum einen bei der kognitiv-sprachlichen Entwicklung von Kindern, und zum andern beim Risiko der Kindesvernachlassigung. F€ur die Kennzeichnung der Schichtzugehorigkeit wird €ublicherweise der soziookonomische Status („socio-economic status“, SES) verwendet. Der SES ist ein semiquantitativer Score, der aus Kriterien der schulischen und beruflichen Bildung der Eltern und des Familieneinkommens gebildet wird. Ein niedriger SES ist, wie in vielen Untersuchungen nachgewiesen wurde, mit einer statistischen Haufung psychischer Problemlagen und – in Folge davon – mit einem erhohten Risiko negativer Einfl€usse auf Familienklima, Erziehungsverhalten und Interaktionsweisen verbunden. Ein Beispiel daf€ur, wie sich psychosoziale Einfl€usse auf der biologischen Ebene auswirken, ist der Nachweis signifikant erhohter Kortisolspiegel bei Kindern aus niedrigem SES als Ausdruck von Stress gegen€uber Kindern aus hohem SES. In allen Studien €uber die Auswirkung biologischer und psychosozialer Einflussfaktoren auf die Entwicklung von Kindern hat sich der SES als die weitaus wichtigste Variable erwiesen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel sind Ergebnisse aus der Rochester-Studie. In dieser Studie wurden die Entwicklungsverlaufe von Kindern aus drei verschiedenen sozialen Schichten untersucht (weise Oberschicht, weise Unterschicht, schwarze Unterschicht). Alle drei Gruppen zeigten zu Beginn und noch bis zum Ende des 1. Lebensjahres keine signifikante Differenz in den durchschnittlichen Entwicklungsquotienten. Bis zum Ende des 4. Lebensjahres trat eine extrem divergente Entwicklung ein, wonach sich die Durchschnitte in der hochsten Sozialschicht von denen in der niedersten Sozialschicht um fast 2 Standardabweichungen unterschieden; das entspricht einer Differenz von fast 30(!)
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