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Die Medizin der Gegenwart

1999 
Von meinem vierzehnten Jahre an wollte ich Arzt werden. Anfangs war es die kindliche Auffassung vom Beruf des Arztes als eines „Wohltaters der Menschheit“. Spater fuhlte ich, daβ mich keine Wissenschaft den geheimnisvollen Ratseln des Lebens naher brachte, als die Medizin. Diese Vorstellung lieβ mich an meiner Wahl unbeirrt festhalten, ohne daβ ich besondere berufliche Vorbilder oder gar Eindrucke von der Bedeutung des Krankhaften gehabt hatte. Ich blieb dabei auch noch in der Zeit vom 16. bis 18. Lebensjahre, in der nach meiner Entwicklung es naher gelegen hatte, Mathematik oder Chemie zu studieren. Seit meiner Primanerzeit hatte ich mir das Ziel gesetzt, nicht Praktiker, sondern Forscher und Lehrer zu werden. Anfangs kamen nur Biologie und Physiologie in Frage, dann fesselte mich die innere Klinik so sehr, daβ seit der Assistentenzeit dieses Gebiet in den Vordergrund trat. Aber spater, wahrend ich als jung niedergelassener Arzt auf Kranke wartete, brach mit groβer Kraft die Neigung zur Gesundheitspflege durch. Dadurch fand ich den Wiederanschluβ an die Lehren vom normalen Leben und einen weiteren Standpunkt gegenuber den Moglichkeiten der Gesundung. Das Jugendziel des akademischen Lehrers gab ich anfangs noch nicht auf, verfolgte es aber immer schwacher und habe es schlieβlich nie erreicht. Dagegen wurde meine Tatigkeit gerade im Zusammenhang mit dem praktisch-arztlichen Beruf so vielseitig, wie wohl bei wenigen Medizinern der Neuzeit. Ich fing als klinischer Krankenhausassistent an, war spater neben der Haupttatigkeit des allgemeinen Arztes der Groβstadt, der auch armenarztliche und kassenarztliche Praxis betrieb, Vorstandsmitglied von Standesvereinen und wissenschaftlichen Gesellschaften, Mitglied der Arztekammer und medizinischer Schriftsteller. In der freien Zeit arbeitete ich durch Jahre in Universitatsinstituten, spater bildete ein kleines, primitives Hauslaboratorium ungenugenden Ersatz zur Befriedigung der seit der Jugend bestehenden, aber wegen mangelnder Zeit und Ausdauer meist unglucklichen Liebe zum Experimentieren. Bald verbot auch der Geruch der weiβen Mause und faulenden Kulturen im Sprechzimmer die Fortsetzung; Epidemiologie und medizinische Statistik lieβen sich auch in der Wohnung und in den Abendstunden durchfuhren. Vortrage in Fachgesellschaften und offentliche Belehrungsvorlesungen habe ich oft gehalten, gelegentlich war ich auch berichterstattender Vortragender auf wissenschaftlichen Kongressen, aber eine planmaββige Lehrtatigkeit ubte ich erst im 7. Jahrzehnt meines Lebens als standiger Dozent fur soziale Hygiene und medizinische Statistik an der Charlottenburger Akademie fur soziale Hygiene aus. Die Aufforderung, in den Magistrat Charlottenburgs einzutreten, uberraschte mich 1906 spat abends, mit einer nur 48 stundigen Bedenkzeit. Ich trat damit in die Laufbahn des Verwaltungsbeamten uber. Diese „Stadtarzttatigkeit“, die Martius und Hueppe in ihren Aufsatzen in dieser Sammlung beim Erwahnen unserer Zusammenarbeit eine stille und bescheidene nannten, war fur mich der schoonste und erfolgreichste Lebensabschnitt. Ebenso unerwartet trat am 5. Marz 1919 an mich der Antrag heran, die Leitung des preuβischen Medizinalwesens zu ubernehmen. Ich hatte bei meinen mehr als 60 Jahren nie daran gedacht, diese unter den damaligen Verhaltnissen besonders schwierige Stelle zu erstreben; nachdem sie mir einmal und zwar ohne jede parteipolitische Verpflichtung angeboten, entschloβ ich mich zur Annahme, aus meinem Grundsatz, keine sich bietende Gelegenheit zu erweiterter Tatigkeit auszuschlagen und Verantwortung nicht zu scheuen. In Verbindung damit wurde ich stellvertretendes Mitglied des Reichsrats und als solches Berichterstatter fur die Gesundheitsgesetzgebung im Reich; als Regierungsvertreter hatte ich auf dem glatten Boden der Parlamente mich zu bewegen. Vor etwa 2 Jahren wurde ich ersucht, in die Schriftleitung der Klinischen Wochenschrift einzutreten und dort die Abschnitte der offentlichen Gesundheitspflege und der Tagesgeschichte zu bearbeiten. Mein Arbeitsfeld war demnach durch innere Wachstumstriebe bestimmt, die Form der Auswertung aber durch auβere Einflusse bedingt und stand im starken Gegensatz zu personlichen Wunschen, die stets auf wissenschaftliches Arbeiten in einer kleinen, stillen, schon gelegenen Universitatsstadt hinausliefen. Trotzdem kann von eigentlichem Zufall nicht die Rede sein. Im ubrigen sind die von mir verpaβten Gelegenheiten eben nicht in die Erscheinung getreten.
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