Electronic Monitoring im Kontext von häuslicher Gewalt. Untersuchung zuhanden des Bundesamts für Justiz (BJ). Schlussbericht vom 5. Februar 2021

2021 
Executive Summary Das Bundesamt fur Justiz (BJ) wurde mit der Umsetzung des Postulats 19.4369 «Prufung wirksa-merer Massnahmen zum Opferschutz in Hochrisikofallen bei hauslicher Gewalt» vom 27. September 2019 von Nationalratin Sibel Arslan betraut. Die vorliegende, vom BJ in Auftrag gegebene Studie umfasst eine systematische, konzise Bestandesaufnahme und Metaanalyse zum Einsatz techni-scher Mittel im Kontext des Schutzes vor hauslicher Gewalt. Der Fokus liegt dabei auf der Beurtei-lung der Wirksamkeit technischer Mittel gestutzt auf Erkenntnisse aus der internationalen Forschung und gewonnenen Erfahrungen aus der Praxis in der Schweiz und anderen Landern. Mit der Studie wird Grundlagen‐ und Handlungswissen fur die politische Diskussion und Entscheidungsfindung ge-neriert und die Arbeit des BJ sowie der mit Expert*innen des Bundes und der Kantone gebildeten Begleitgruppe unterstutzt. Eine Analyse der entsprechenden Rechtslage (Bund und Kantone) bildete nicht Bestandteil des Auftrags, weshalb auf diese in der Studie nicht naher eingegangen wird. Electronic Monitoring (EM) ermoglicht den zustandigen (staatlichen) Behorden, die Anwesenheit ei-ner Person, deren Aufenthaltsort, deren Bewegungen und/oder deren Einhalten anderer Auflagen aus der Distanz festzustellen und zu kontrollieren. Der Begriff EM umfasst eine breite Palette an elektronischen Uberwachungsgeraten und deren Anwendungen, die in unterschiedlichen rechtlichen Anwendungsfeldern und zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt werden konnen. EM kann im Kon-text des Schutzes vor hauslicher Gewalt in verschiedenen (Verfahrens‐)Stadien zur Anwendung ge-langen, insbesondere auch dann, wenn noch kein Strafverfahren eroffnet worden ist. Die zu uber-wachenden Personen werden mit einem Sender (i.d.R. mit einer elektronischen Fussfessel oder einem elektronischen Armband) ausgerustet, damit ihre Anwesenheits- bzw. Positionsdaten erfasst und aufgezeichnet werden konnen. Die Ortung des Senders erfolgt per Radiofrequenz (RF), per standortbezogenem Dienst (Location-based System [LBS]; etwa uber Mobilfunkantennen) oder uber ein satellitengestutztes System (i.d.R. uber das Globale Positionsbestimmungssystem [GPS]). Die Datenubertragung vom Sender zur uberwachenden Stelle lauft in der Regel uber das Mobilfunknetz oder das Telefonnetz. Es konnen sowohl gefahrdende als auch zu schutzende Personen mit einem Gerat ausgerustet werden. Zu schutzenden Personen konnen zudem Notfallknopf-Systeme abgege-ben werden. EM kann insbesondere als passive, aktive oder dynamische Uberwachung durchgefuhrt werden. Auch kombinierte und/oder hybride Uberwachungsformen sind moglich. Bezogen auf die Schweiz kann insgesamt festgestellt werden, dass hier bisher tendenziell gute Er-fahrungen mit dem Einsatz von EM gemacht worden sind. Diese Aussage ist jedoch insofern zu relativieren, dass EM in der Schweiz bisher grossmehrheitlich als Strafvollzugsalternative (Front Door- und Back Door-Variante) eingesetzt worden ist. Einsatze ausserhalb des Vollzugs von Frei-heitsstrafen waren bis anhin ausserst selten, weshalb noch kaum Erfahrungen damit gesammelt werden konnten. Bezogen auf die internationalen Befunde kann insgesamt festgestellt werden, dass der Einsatz von EM in verschiedenen Anwendungsbereichen bereits weit verbreitet ist. Die dazu vorliegenden Wirk-samkeitsbeurteilungen sind durchzogen und mit Vorsicht zu betrachten. Spezifisch bezogen auf den Kontext hauslicher Gewalt kann die Lage positiver zugunsten des Einsatzes von EM eingeschatzt werden: Fur ein Pilotprojekt des Kantons Zurich wird die aktive Uberwachung, wenn auch fur eine breite Anwendung als zu aufwendig, fur Spezialfalle im Gewaltschutz wie Stalking oder bei jugend-lichen gefahrdenden Personen als zweckmassig eingeschatzt. Erweitert man das Blickfeld uber die Schweiz hinaus, zeigt sich, dass in anderen Landern durchgefuhrte Studien spezifisch zum Anwen-dungsbereich «hausliche Gewalt» zu Ergebnissen gelangen, die optimistisch stimmen. Dabei sind die positiven Erfahrungen aus dem spanischen Modell hervorzuheben, das seit 16 Jahren erprobt und allmahlich auch wissenschaftlich erfasst ist. Aus den herangezogenen Quellen und Erfahrungs-berichten von Expert*innen zeichnet sich ab, dass sich gewisse Bedingungen positiv auf den Erfolg von EM auswirken: - Der Einsatz von EM bedarf einer klar bestimmten und reflektierten Zielformulierung. - Der Einsatz von EM bedarf des Bewusstseins aller beteiligten Personen und Stellen hinsichtlich der technischen und faktischen Moglichkeiten der konkret eingesetzten technischen Losung. - Der Einsatz von EM scheint wirksamer, wenn er an den Einzelfall angepasst wird. - Der Einsatz von EM scheint wirksamer, wenn er mit Begleitmassnahmen verbunden wird bzw. als ein Element in eine Gesamtstrategie eingebettet ist. - Der Einsatz von EM sollte eng durch eine spezialisierte Uberwachungsstelle begleitet werden, in der spezifisch die Fahigkeiten und die Ausbildung, mit Personen im Kontext hauslicher Gewalt umzugehen, vorhanden sind. Es konnten indes auch verschiedene technische Limitationen und Probleme eingesetzter techni-scher Mittel eruiert werden. Gewisse Limitationen werden auch kunftig bestehen bleiben, andere konnen durch neuere technische Entwicklungen und Anpassungen gestutzt auf die gewonnenen Erfahrungen aufgebrochen werden. Aus technischer Sicht bestehen etwa nur noch wenige Ein-schrankungen hinsichtlich der Kombination verschiedener Einsatzarten. Die Technologieanbieter konnen Losungen recht individuell auf die Bedurfnisse der einsetzenden Stellen anpassen. Die Sys-teme sind in der Regel modular konstruiert, so dass sie jederzeit schrittweise ausgebaut werden konnen. Eine nationale Uberwachungszentrale sollte in dieser Hinsicht alle Optionen offenhalten. Bei aktiven – und verstarkt bei dynamischen – Uberwachungsformen, fliessen grosse Mengen an Daten. Um darauf angemessen reagieren zu konnen und einen flussigen Betrieb zu gewahrleisten, werden in den internationalen Quellen zentralisierte Uberwachungszentralen als notwendig erachtet. Insgesamt ist der Betrieb derartiger Uberwachungsformen als ressourcenintensiv einzuschatzen. Insbesondere in Kombination mit Begleitmassnahmen scheinen diese Uberwachungsformen aber die Sicherheit (objektiv und subjektiv) der zu schutzenden Personen zu erhohen bzw. das Risiko von Verstossen und Ubergriffen zu vermindern sowie Reaktionszeiten der Einsatzkrafte herabzusetzen. EM scheint damit zu einem starkeren Schutz beitragen zu konnen, insbesondere wenn es in ein Gesamtschutzkonzept integriert ist. Die Starkung des Sicherheitsgefuhls, und damit einhergehend eine (Wieder-)Ermachtigung, von zu schutzenden Personen scheint ein wesentliches Ziel, das vor allem mit kombinierten bzw. dynamischen Uberwachungsformen erreicht werden kann. Die gesamtgesellschaftlichen bzw. volkwirtschaftlichen Kosten hauslicher Gewalt werden als sehr hoch eingeschatzt. Der Erfolg von EM sollte indessen nicht primar an einem geldwerten Kosten-Nutzen-Verhaltnis gemessen werden, sondern es ist daruber hinaus eine staatliche Pflicht und ein bedeutsames (politisches) Anliegen, hausliche Gewalt zu verhindern. In diesem Sinne ist moglich-erweise auch ein Perspektivenwechsel angezeigt, wie er im Umsetzungsprozess des spanischen Modells stattgefunden hat: Im Fokus steht in diesem Modell die zu schutzende Person, d.h. der Schutz der von hauslicher Gewalt betroffenen Person, und nicht die gefahrdende, uberwachte Per-son. Mit diesem Ansatz scheint es weniger bedeutsam, die gefahrdende Person moglichst perma-nent (ohne Unterbrechungen) und luckenlos (an jedem Ort) zu uberwachen. Das primare Ziel der Uberwachung liegt vielmehr darin, Gefahrdungen fur die zu schutzende Person, die von einer be-stimmten Person ausgehen, zu vermeiden. Im Kontext hauslicher Gewalt gefahrdete Personen sol-len ermachtigt werden, ihr Leben (wieder) nach aussen zu richten, zur Arbeit zu gehen etc. Abgese-hen davon gilt es nicht zu vernachlassigen, dass es sich um einen Bereich mit einem grossen Dunkelfeld handelt, in dem gefahrdete Personen noch immer zu selten nach aussen bzw. an staat-liche Stellen herantreten. Schliesslich ist darauf aufmerksam zu machen, dass der Einsatz von EM einen staatlichen Eingriff in die Freiheitsrechte von betroffenen Personen darstellt, der sehr intensiv ausfallen kann. Die zur Verfugung stehenden technischen Moglichkeiten sind sorgfaltig vor dem Hintergrund rechtsstaatli-cher und gesellschaftlicher Uberlegungen abzuwagen. Es ist einerseits zu unterscheiden zwischen der Fragestellung, was technisch zu leisten ist, damit ein erhohter Schutz wirksam erreicht werden kann, und andererseits der Fragestellung, wie ein (wirksamer) Einsatz unter ethischen und recht-staatlichen Gesichtspunkten zu beurteilen ist. Allgemein sollte darauf geachtet werden, ungewollte «Netwidening»-Effekte zu vermeiden. Die Entwicklung zu einer starkeren Vernetzung von EM mit anderen Systemen, umfangreicheren Datensammlungen durch die verwendeten technischen Mittel sowie der prospektiv-pradiktiven Verwendung der dadurch gewonnenen Informationen ist aus ethi-scher und rechtstaatlicher Sicht kritisch zu beobachten. Der Trend zu einer prospektiven Verwen-dung von EM-Systemen («predictive driven approach») ist als besonders sensibel und heikel einzu-schatzen, wenn private Unternehmen in die entsprechenden Prozesse involviert sind. Dazu ist anzumerken, dass EM heute kaum ohne den Einbezug von privaten, kommerziellen Akteur*innen umgesetzt werden kann.
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