Die Erfahrung der Anderen. Dialogische Zusammenarbeit und kollektives Gedächtnis in Israel und Palästina

2010 
Die Studie widmet sich der dialogischen Zusammenarbeit in Israel und Palastina von der ersten Intifada Ende der 1980er Jahre bis zum Beginn der zweiten Intifada im Jahre 2000. Am Beispiel zweier dialogischer Schauplatze wird untersucht, welche Rolle kollektives Gedachtnis in den Interaktionen und Dialogen zwischen judischen Israelis und PalastinenserInnen aus den besetzten Gebieten spielt. Die Zugehorigkeit zum israelischen resp. palastinensischen Kollektiv definiert sich, so die Ausgangsannahme, durch die Teilhabe am kollektiven Gedachtnis ihrer Gesellschaften, d.h. durch die Ubernahme bestimmter Deutungsmuster, Erzahlungen, Wissensvorrate und die Pragung durch das nationale Narrativ. Im Nahostkonflikt spielen solche Pragungen eine wichtige Rolle. Die vorliegende Arbeit untersucht, wie sie in den Dialog und die Zusammenarbeit mit den Anderen einfliessen. Es gibt eine Reihe von Studien uber die theoretischen Modelle, Kommunikationsprozesse und Wirkungen von friedenspadagogischen Seminaren mit Jugendlichen, die von Fachleuten moderiert werden. Es liegen auch Evaluationen uber die Arbeit von israelischen und palastinensischen NGOs im Friedensbereich und schliesslich Studien uber so genannte Track II-Diplomatie vor. Uber so genannte Grassroot-Initiativen (lokal begrenzt, zivilgesellschaftlich, also nicht von politischen oder wirtschaftlichen Fuhrungsgremien determiniert, Wirkungsweise von unten nach oben) gibt es nur einige wenige Artikel – die vorliegende Arbeit springt in diese Lucke. Sie hat aber keinen Anspruch, Grassroot-Dialoge in Israel/Palastina vollstandig und im Allgemeinen abzudecken, sondern beschrankt sich auf zwei dialogische Schauplatze, die nicht die Realitat der Friedensbewegung als Ganzes abbilden, sondern ein Ausschnitt aus dieser Realitat zeigen. Erstens wird eine freie Dialoggruppe zwischen Palastinensern aus Beit Sahour und judischen Israelis untersucht, eine von mehreren Gruppen, die zur Zeit der ersten Intifada begonnen wurden – in Nablus, Ramallah, im Fluchtlingslager Deheische und anderswo – und die am langsten andauernde und stabilste. Sie bestand von 1988 bis 2000. Zweitens wird die feministische Zusammenarbeit zwischen palastinensischen und israelischen Frauen in der Plattform Jerusalem Link vorgestellt, die 1994 gegrundet wurde und bis heute besteht. Die Hoch-Zeit der Zusammenarbeit fallt zusammen mit der Unterzeichnung der Oslo-Abkommen, die Kooperation flacht seit Beginn der zweiten Intifada ab und ist heute vor allem in der institutionellen Verankerung noch vorhanden, vor Ort gibt es fast keine Zusammenarbeit mehr. Als Hintergrundfolie, von der sich die Dialoggruppe von Beit Sahour und die Zusammenarbeit im Jerusalem Link abheben, wurde auch ein schriftlich festgehaltener und publizierter Dialog zwischen zwei Exponenten der Fuhrungsschicht analysiert. Desgleichen dient ein Exkurs zu einigen Treffen zwischen Exponenten der Siedlerbewegung und der Palastinensischen Autonomiebehorde der vertieften Auseinandersetzung mit der Frage des Dialoges mit Siedlern und Siedlerinnen, uber die sowohl in Beit Sahour als auch im Jerusalem Link gestritten wurde. 1. AsymmetrieDie dialogische Zusammenarbeit hat Raume der Gleichheit und der gegenseitigen Humanisierung eroffnet, in denen judisch-israelische und palastinensische DialogpartnerInnen einander als prinzipiell Gleiche begegnen konnten. Dennoch waren sie auch von Asymmetrie gekennzeichnet. Zum einen genossen die israelischen PartnerInnen Rechte und Privilegien, welche die palastinensischen PartnerInnen nicht hatten. Dies zeigte sich v.a. in der zunehmenden Einschrankung der Bewegungsfreiheit der PalastinenserInnen im Laufe der 1990er Jahre. Zum zweiten zeigte sich eine Asymmetrie auch darin, dass die israelischen PartnerInnen manchmal direkt beteiligt waren an der Entrechtung der palastinensischen Bevolkerung oder von ihr profitierten, z.B. wenn sie Dienst in der Armee taten oder in alten arabischen Villen in Jerusalem wohnten. Drittens kehrte sich das Machtverhaltnis manchmal auch um: das palastinensische Narrativ, Opfer einer europaischen Kolonisierung zu sein, wurde durch den Kontext der Besetzung und Besiedlung bestatigt. Das judische Narrativ, Opfer der feindlichen nichtjudischen Umwelt zu sein, die Erfahrungen der Ausgrenzung und der Verfolgung haben sich im Kontext der Besetzung der Westbank und ihrer Besiedlung nicht bestatigt, ja sie standen sogar in diametralem Gegensatz zur Realitat vor Ort. Daraus folgte, dass in den dialogischen Raumen die Geschichte der PalastinenserInnen, ihre Angste, Bedurfnisse und Forderungen sehr viel mehr Gewicht erhielten als die Angste, Bedurfnisse und Forderungen der israelischen PartnerInnen. Das kollektive Gedachtnis der judischen Israelis, ihre Erinnerungen und Pragungen durch die Vergangenheit waren entkontextualisiert und schienen in der dialogischen Situation abgehoben. 2. Nahe und DistanzIn der Regel wollten die Israelis mehr Nahe, wahrend die PalastinenserInnen auf Distanz pochten. Emotionale Nahe und Freundschaften waren nicht das, was die PalastinenserInnen in den Dialogen suchten. Das Ziel der Israelis war Frieden und ein friedlicher Umgang mit den als Feinden Deklarierten; die dialogische Zusammenarbeit war Teil dieses Ziels. Indem sie also in Kontakt waren mit den PalastinenserInnen hatten sie ein Teil des Ziels schon erreicht. Diese jedoch strebten nicht nach Frieden, sondern nach Unabhangigkeit und Souveranitat. In diesem Sinne hatte der Dialog eine strategische Bedeutung; er war ein Instrument auf dem Weg zum Ziel und nicht Teil des Ziels selbst. 3. Normalisierung der BeziehungenDie israelischen DialogpartnerInnen strebten daher eine Normalisierung der Beziehungen an. Widerstand gegen diese Normalisierung war ein Kampfinstrument, das erst die arabischen Staaten und spater auch die palastinensische Bevolkerung gegen den Staat Israel eingesetzt hatten. Mit den Oslo-Abkommen wurde Normalisierung nicht mehr im Prinzip abgelehnt, sondern als quid pro quo verstanden und mit territorialen Zugestandnissen Israels verbunden. Normale Beziehungen mit seinen Nachbarstaaten waren Israel seit 1948 verwehrt, und sie waren das, was der Staat Israel und seine judischen BurgerInnen am meisten begehrten. 4. Politische SolidaritatDie PalastinenserInnen forderten von den Israelis politische Solidaritat. Nach Beginn der zweiten Intifada wollten viele Israelis diese Solidaritat nicht mehr aufbringen. Die neuen BundnispartnerInnen waren in erster Linie internationale Aktivistinnen oder israelische Gruppen, die sich als antizionistisch oder nichtzionistisch verstanden. Diese neuen AktivistInnen waren in der Regel junger und weniger stark gepragt von Erinnerungen an Verfolgung, resp. jung genug, die Thematisierung der Shoa in der israelischen Politik als Instrumentalisierung wahrzunehmen. 5. Kolonialismus versus BefreiungsbewegungDer kleinste gemeinsame Nenner der DialogpartnerInnen war die Kritik am Status quo der Besetzung von 1967. Der Antrieb der Israelis fur den Dialog war die Uberzeugung, die fortdauernde Besetzung jenseits der grunen Linie sei unrecht. Damit verbunden war aber eine grundsatzliche Loyalitat zu Israel als judischem und demokratischem Staat innerhalb der Grenzen von 1967. Die palastinensischen Dialog-Teilnehmenden hielten hingegen nicht bloss die Besetzung und Besiedlung der palastinensischen Gebiete ab 1967 fur eine unrechtmassige Kolonisierung, sondern sahen die Vertreibung im Jahre 1948 und die Grundung eines ethnisch oder religios definierten Staates Israel fur das Grundubel des Konflikts. Die meisten unter ihnen waren zwar bereit, die 1967er Grenzen aus pragmatischen Grunden zu akzeptieren. Zu dieser Haltung hatte sie nicht zuletzt auch die Begegnung mit Israelis im Dialog gefuhrt. Die palastinensischen DialogteilnehmerInnen standen in ihrem Selbstverstandnis in der Tradition eines antikolonialistischen Kampfes gegen europaische Siedler. Die israelischen DialogteilnehmerInnen deuteten den Konflikt und die israelische Rolle darin eher als irregeleitete Befreiungsbewegung, die nun selbst zur Unterdruckung anderer beitrug. Am sichtbarsten war dies in ihrem komplexen und ambivalenten Verhaltnis zur Armee. Fur die palastinensischen TeilnehmerInnen war die israelische Armee ein unterdruckerischer Machtapparat, fur die Israelis eine notwendige Institution, die zwar nicht immer korrekt handelte, prinzipiell jedoch sie und ihr Kollektiv schutzte und geradezu verkorperte. Im Kontext, in denen die freien Dialoggruppen und der Jerusalem Link – die erste Intifada und die Oslo-Abkommen – entstanden sind und ihre Hoch-Zeit erlebten, stellte ihre Kooperation einen Schritt hin zu einer Losung dar. Heute hat sich der Kontext geandert: Die Zusammenarbeit in beiden dialogischen Schauplatzen ist gescheitert. In Beit Sahour endete sie im Jahre 2000, beim Jerusalem Link besteht sie in den letzten Jahren nur noch auf dem Papier als institutionelle Verankerung. Dennoch hat die dialogische Zusammenarbeit Raume der gegenseitigen Humanisierung und der Gleichheit geschaffen, die im Bewusstsein der Teilnehmenden und in ihrer Erinnerung Spuren hinterlassen haben. Diese Raume zu dokumentieren und zu erinnern war Ausgangspunkt und Ziel dieser Arbeit.
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