Helmar Schramm: Das verschüttete Schweigen. Texte für und wider das Theater, die Kunst und die Gesellschaft. Hg. v. Erhard Ertel/Joachim Fiebach/Michael Lorber und Anne Schramm.:

2017 
Das Kaleidoskop, so verrat es die editorische Notiz zum Band Das verschuttete Schweigen, war das Lieblingsspielzeug von Helmar Schramm. Er habe eine Sammlung in seiner Kreuzberger Wohnung aufbewahrt und diese gelegentlich an Themenabenden Mitarbeitenden und Studierenden vorgefuhrt. Die vorangestellte Anekdote ist programmatisch fur den nun vorliegenden Band, der erstmals wesentliche Texte des 2015 verstorbenen Theaterwissenschaftlers versammelt. Die Textauswahl – zusammengestellt und herausgegeben von Erhard Ertel, Joachim Fiebach, Michael Lorber und Anne Schramm – vermittelt das "kaleidoskophafte Denken" (S. 11) Schramms, der in seinen Arbeiten uber vier Jahrzehnte hinweg eine sich wandelnde Welt stets neu ins Verhaltnis setzte. Die 29 Beitrage, entstanden zwischen 1980 und 2014, sind chronologisch abgedruckt und bis auf den ersten sowie letzten Beitrag bereits publiziert. Neben viel beachteten Grundlagentexten, etwa den Studien zur Theatralitat und den theatralen Kulturen des 17. Jahrhunderts, umfasst der Band fruhe Theaterkritiken genauso, wie ein recht personliches, bislang unveroffentlichtes Fragment (Eine knallrote Kugel, undatiert) sowie die literarische Erinnerung Mit vollem Mund spricht man nicht (1983) und das unvollendet gebliebene Denkprotokoll Modell + Risiko (2014). Dem herausgebenden Team ist damit zweierlei gelungen: einerseits, die verstreuten Texte Schramms in einem Buch und in einheitlicher sowie erganzter Zitation zuganglich zu machen und andererseits, dessen vielfaltiges Schreiben und Forschen darzulegen. Zwei Jahre nach dem Tod von Helmar Schramm ist so, auf Initiative langjahriger Weggefahrtinnen und Weggefahrten, ein ubersichtliches Studienbuch entstanden, das prasente wie vernachlassigte Texte des Theaterwissenschaftlers (seit 1995 Professor fur Theaterwissenschaft, zunachst an der Universitat Leipzig, ab 1998 an der Freien Universitat Berlin) gleichermasen in den Forschungsdiskurs zuruckgibt. Eroffnet wird der Band von Joachim Fiebach, der in seinem Aufsatz Schramms Motiv vom "Wuchern des Theatralen im Gewebe der Gesellschaft" aufnimmt und damit gleichsam auf die Lekture der Aufsatze einstimmt, beschaftigen sich diese doch mehrheitlich mit den "theatralen Dimensionen gesellschaftlicher Realitaten" (S. 15). Ein 1987 veroffentlichter Text uber Frank Castorf bildet das Scharnier zwischen den fruhen publizistischen Arbeiten Schramms – neu ediert wurden etwa Theaterkritiken zu Arbusows Erwartung in Wittenberg (1980) und zur DDR-Erstauffuhrung von Die heilige Hure (1984) – und den folgenden wissenschaftlichen Analysen. Unter dem Titel Dem Zuschauer auf den Leib rucken legt Helmar Schramm Castorfs Inszenierungen als konzeptionelle Entwurfe dar und fokussiert jenseits vom "literaturfixierten Blick" (S. 42) auf dessen Theater zwischen Musikalitat, korperlichem Spiel, rhythmischer Organisation, absurder Komik und Tanz. Die Re-Lekture des auf das "praktische Spiel als eigenstandiges Mittel" (S. 41) zielenden Textes hat nun, 30 Jahre spater und im Ruckblick auf Castorfs Volksbuhnen-Intendanz, eine neue Aktualitat. Mit Studien zu Robert Rauschenberg (Lichtraumcollagen, 1990), Hypochondrie (1992) oder zum Verhaltnis von Technikgeschichte und Verhaltensokonomie (2005) prasentiert sich Schramm als Grenzganger im Spannungsfeld zwischen Theater, Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft. Seine Texte zeugen vom Ringen um eine gesellschaftspolitisch engagierte Theaterwissenschaft jenseits dramenzentrierter und asthetischer Kategorien. Sie eignen sich deshalb auch als Wegmarken der Fachgeschichte. Seine Aufsatze, etwa jener zur Theatralitat und Offentlichkeit (1990), sind gebettet in breitere Suchbewegungen der deutschsprachigen Theaterwissenschaft der 1990er Jahre, Theater als kulturelles Verhaltnis zu fassen und theaterwissenschaftliche Methodik fur kulturhistorische Phanomene zu scharfen. Stetig die Perspektive auf theatrale Aspekte jenseits des burgerlichen Theatergebaudes offnend, nimmt Schramm verschiedentlich Anlaufe, das Verhaltnis von Theatralitat und Offentlichkeit bzw. Theater und Offentlichkeit zu bestimmen. Er befragt deren Interferenz, sowohl fur die Theatergeschichte der Fruhen Neuzeit, als auch – aus zweierlei Zeitgenossenschaft heraus – fur die DDR und die BRD. In Theatralitat und Offentlichkeit skizziert Schramm ein semantisches Feld anhand dreier "archaologischer Suchfelder" (S. 93), um eine Begriffsgeschichte von "Theater" zu umreisen und gleichsam das Verhaltnis von Theatralitat und Offentlichkeit zu fassen: Theater als metaphorisches Modell, als rhetorisches Medium und als schone Kunst. Er suchte damit dem "weltweiten Umbruch kultureller Praktiken" (S. 95) gerecht zu werden und die "theatralischen Seiten des gesellschaftlichen Lebens" begriffsgeschichtlich zu fassen. So wendet er sich beispielsweise der Theatermetaphorik als "Bemuhen, sich einen Begriff von der Welt zu machen" zu (S. 101). Schramms eigenes theoretisches und methodisches Wandern an den Randern einer Theaterbegrifflichkeit ist stets auch Jonglage zwischen praziser Ausweitung und "entfesselter Eigendynamik" (S. 95) der Begriffe, mit und nach denen Theaterwissenschaft forscht. Immer wieder beharrt Schramm auf einer Neu- und Selbstverortung der Theaterwissenschaft. Es gelte, auch "ungewohnliche Bezuge im theaterhistorischen Raum" (S. 182) zu entdecken. Er selbst legt diese Bezuge dar, etwa, wenn er sich mit den theatralischen Dimensionen der Alchemie (Das offene Buch der Alchemie und die stumme Sprache des Theaters. Theatralitat als Schlussel gegenwartiger Theaterforschung, 1995) oder mit dem Zeremoniell des Spalierstehens (1995) befasst. Auf das noch im 17. Jahrhundert gelaufige Theatrum im Sinne von Schauplatz zuruckgreifend, pladiert Schramm auch in seinem Aufsatz zur Vermessung der Holle. Uber den Zusammenhang von Theatralitat und Denkstil (1995) fur eine begriffliche Erweiterung und die Uberschreitung "institutionalisierter Grenzen" (S. 164): Theaterwissenschaft, ob als Kunst-, Kultur- oder Medienwissenschaft betrieben, musse tradierte Grenzziehungen, beispielsweise jene entlang des institutionalisierten Theaters, in Frage stellen. Theaterforschung konne mit einem kulturwissenschaftlich angewendeten Theaterdispositiv einen "originaren Beitrag zur Erschliesung historischer Felder" (S. 164) leisten. Neben der Verortung dieser verschiedenen Gegenstandsfelder spricht sich Schramm fur einen "neuen Denkstil" (S. 166) aus, der der von ihm immer wieder behaupteten Korrelation von Theater- und Wissenschaftsgeschichte gerecht werde. Sein grundsatzliches Interesse fur die Zusammenhange von Theater, Gesellschaft und Wissenschaft zieht sich, von diesen Aufsatzen ausgehend, durch weitere, im vorliegenden Band ebenfalls versammelte Arbeiten. So kristallisieren sich wahrend der Lekture grosere Themengebiete heraus, die immer wieder aufgegriffen, neu verhandelt oder zueinander in Beziehung gesetzt werden. Neben dem Zusammendenken von Schrift, Philosophie und Theater als "Theatrum Philosophicum" – beispielsweise in den Uberlegungen zu Brecht und Bacon (Das Haus der Tauschungen, 1987) oder zu Montaignes Inszenierungen von Text (1992) – spiegeln die edierten Beitrage eine verstarkte Wendung Schramms ab Mitte der 1990er Jahre zu theatralen Aspekten des 17. Jahrhunderts und den damit verbundenen "Buhnen des Wissens". Die Hinwendung zu diesen fruhneuzeitlichen Buhnen kultureller Praktiken schlug sich auch in Schramms 1996 publizierter Habilitationsschrift Karneval des Denkens nieder und ist im vorliegenden Sammelband besonders uberzeugend im Beitrag zu Feuerwerk und Raketentechnik um 1700 dargelegt. Unter Einbezug schlagender ikonographischer Quellen analysiert Schramm das Feuerwerk im 17. Jahrhundert als "pyrotechnisches Theater" (S. 223), schliest hieruber auf Machtstrukturen sowie auf die Mechanisierung von Weltbildern und wirbt damit insbesondere fur die methodischen Moglichkeiten einer als Kulturwissenschaft betriebenen Theaterwissenschaft, historische wie gegenwartige Wirklichkeiten zu beschreiben. In der Beschreibung dieser von ihm wahrgenommenen Wirklichkeiten setzt Schramm, das legen die versammelten Texte verschiedentlich dar, unverkennbar eigene stilistische Akzente. Sein Schreiben und Nachdenken ist komplex ineinander geschachtelt, von plastischer Bildlichkeit durchdrungen und dies mehrheitlich nicht auf Kosten sondern zugunsten der analytischen Prazision. Sein "unokonomisches Denken" entzieht sich damit einerseits einer einfachen Anschlussfahigkeit, ist aber andererseits ein dichter Fundus theaterhistoriographischen Arbeitens, den es stets neu zu entdecken gilt. Die Textsammlung gibt einen Einblick in diesen dichten Fundus, der uber die darin konkret besprochenen theaterhistorischen Gegenstande hinaus auch eine Haltung zum historischen Material vermittelt, die – stilistisch eigenwillig und "strikt gegenwartsorientiert" (S. 95) – Erkenntnismoglichkeiten gewahrt und so Inspiration und Diskussionsgrundlage sein kann fur weitere theaterwissenschaftliche Forschung. In seinen Erinnerungen an Max Picard – 2004 unter dem Titel Schweigen lernen publiziert und nun titelgebend fur den besprochenen Band – legt Helmar Schramm schlieslich ganz plastisch sein Verstandnis vom akademischen Forschen dar: Erneut wissenschaftliche Analyse und literarisch verdichtete Metaphorik collagierend, versinnbildlicht er die Arbeit des Wissenschaftlers mit dem eines Archaologen. Ein Archaologe, der sich, um Sehen, Horen und Erfahren zu lernen, im "Niemandsland zwischen den Disziplinen" auf die Suche nach der "Begegnung mit der Wildnis des Schweigens" begibt – auf die Suche nach dem "verschutteten Schweigen" (S. 267).
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