Ghetto-Diskurse : Geographie der Stigmatisierung in Marseille und Berlin

2001 
Vorbemerkungen "Ghettos" und "Armutsviertel" in deutschen Stadten wurden Ende der 90er Jahre ein zentrales und umkampftes Motiv. Publizistische und politische Programme und Personlichkeiten legitimierten und profilierten sich rund um diese Begriffe, die sich so zu einem stabilen Deutungssystem der Stadt, in diesem Fall zu einer Folge von Bedrohungsszenarien entwickelten. In diesem Kontext, der uns in Berlin fast jeden Tag in der Zeitung begegnete, entdeckten wir unabhangig voneinander ein Forschungsfeld fur unsere Diplomarbeiten, in dem wir unser Interesse an theoretischen und konzeptionellen Ansatzen in der Geographie mit politischen Fragen zusammenbringen und -denken konnten. Obwohl Diskurse, Bilderwelten und Identitaten im Rahmen der Stadtgeographie, der Sozialgeographie und der Politischen Geographie mittlerweile zu wichtigen Themen geworden sind, gab es auf den ersten Blick innerhalb der deutschsprachigen Geographie nur wenige Anknupfungspunkte fur unsere Untersuchungen. Wir fanden meist erst jenseits der Sprach- und Disziplingrenzen eine reichhaltige, theoriegeleitete Debatte vor, die unsere Fragestellungen inspirierte. Zentrale Konzepte - Diskurse, Macht, die uber diese Diskurse wirkt, uber Denkfiguren und Bilder Identitaten erzeugt und Menschen einordnet - passierten wir auf einer Art Forschungsreise, die zu vielen nichtgeographischen Autoren, nicht zuletzt zu MICHEL FOUCAULT fuhrte. Die Rolle von "Raum" in diesen wissenschaftlichen Konzepten, der Hinweis auf die Erschaf-fung von "uns" und "anderen", ausen und innen, und die Rolle von diesen Konzepten "im Raum" als komplexes Geflecht von materiellen, sozialen und symbolischen Elementen war fur uns faszinierend. Sie warf Fragen auf, die in unseren Diplomarbeiten bei weitem nicht zu Genuge angesprochen, geschweige denn beantwortet werden konnten. Das Thema ist fur uns also noch lange nicht abgehakt. Wir versuchten in unseren Arbeiten einen kritischen Standpunkt einzunehmen, der nicht nach einer politisch vorgegebenen Agenda Problemlosungen sucht, sondern den Prozes der Definition von Problemen selbst und die daran anknupfenden Ordnungen und Losungen in Frage stellt. Viele Akteure aus der Politik, den Medien, der Wissenschaft und aus Institutionen wie der Polizei oder Wohnungsbaugesellschaften und schlieslich auch die unterschiedlichen Bewohner der Stadt selbst sind an diesem Prozess in ihren sehr unterschiedlichen Rollen und Positionen beteiligt. Die Geographien der Stigmatisierung sind die Resultate der Stigmatisierungsprozesse in Presse und Politik und der verschiedenen Positionen innerhalb dieser Prozesse und Machtstrukturen. Sie werden aber auch Teil der Handlungen der Stigmatisierten, ihrer Geographien von der Stadt, von sich selbst, von den Anderen. Unser Ziel war es zu zeigen, wie in den Diskursen der Stadtentwicklung Bilder die Wirklichkeit machen, indem die Akteure mittels dieser Diskurse harte Grenzen in der Stadt ziehen, Zuschreibungen von gesund und pathologisch, legitim und illegitim vornehmen. So wird schlieslich auch die Wirklichkeit nicht nur in den Kopfen und in der Stadtlandschaft herbeigedacht/-geschrieben/-geredet, sondern in der Folge auch durch politische oder administrative Masnahmen geschaffen. Von diesen Grundlagen ausgehend, nahmen wir zwei unterschiedliche Wege, die in diesem Band zusammenfinden - nicht als Synthese, sondern als verschiedenartiges Ausloten dieser Prozesse. DIRK GEBHARDT untersucht diese Prozesse der Raumordnung in einem deutsch-franzosischen Vergleich. Er vergleicht die Bilder und Diskurse uber Viertel wie dasjenige der Soldiner-/Koloniestrase in Berlin-Wedding, den Hermannplatz in Neukolln und den "Sozialpalast" in Schoneberg mit den Diskursen uber innerstadtische Viertel und Groswohn-siedlungen ("cites") mit hohem Zuwandereranteil in Marseille. Dieser Teil des Bandes erzeugt somit eine gewisse Breite und ergrundet die Tiefe der Bilder, ihrer Logiken und Zusammenhange. ULRICH BEST konzentriert sich auf Berlin-Kreuzberg. Er stellt die aktuelle Rolle Kreuzbergs in Diskussionen der Stadtpolitik in Berlin dar und betrachtet sie in der Geschichte der Rollen Kreuzbergs als eines "anderen Bezirks" - also die historischen Geographien der Stigmatisierung. Zum zweiten verbindet er diese Ebene der stadtpolitischen Zuschreibungen mit den Selbstzuschreibungen der Bewohner Kreuzbergs, fragt nach Parallelen und nach den Bewohner-Strategien im Umgang mit dem Stigma. Wie wir bereits oben andeuteten, sind die Arbeiten von unserer Seite jeweils die Ergebnisse eines Entdeckens neuer Ansatze und des Versuchs einer Positionierung in der Verworrenheit und scheinbaren Gewichtslosigkeit der Diskurse. Von unserer heutigen Perspektive aus mussen wir sagen, das allein der Begriff "Diskurs" sich in der deutschsprachigen Geographie inzwischen einer gewissen Beliebtheit erfreut. Wir mochten in unseren Arbeiten aber, um das hier noch einmal klar zu sagen, immer auf das Geflecht von Macht, Definition und Politik verweisen und, indem wir dies tun, eine kritische Position einnehmen. Wir sind nicht stehen geblieben. Manches, was wir geschrieben haben, wurden wir heute anders schreiben. Es handelte sich um Diplomarbeiten, und zu Diplomarbeiten gehort unserer Meinung nach dieses Entdecken unbedingt dazu. Daher fanden wir es sinnvoll, die Arbeiten in dieser Form zu veroffentlichen, als zwei mogliche, teilweise parallele und teilweise voneinander abweichende Strecken in einem Feld voller faszinierender Ideen. Wir freuen uns sehr, das wir zum einen die Moglichkeit hatten, sie uberhaupt zu schreiben und bedanken uns dafur bei unseren Betreuern Prof. Dr. Fred Scholz (Ulrich Best) und Prof. Dr. Franz-Josef Kemper (Dirk Gebhardt), sowie bei vielen Freundinnen und Freunden, mit denen wir diskutieren konnten. Wir freuen uns genauso sehr, das wir nun die Moglichkeit haben, sie in leicht uberarbeiteter Form in dieser Reihe zu veroffentlichen. Dafur und fur viele Ratschlage danken wir den Herausgebern.
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