Der Anteil des Gegen-Verhaltens an Revolte und Revolution. Foucaults lange Geschichte der Gouvernementalität: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (1977/78)

2020 
Foucaults ‚lange Geschichte‘ der Gouvernementalitat beschreibt den Prozess einer allmahlichen Aneignung des christlichen Pastorats durch den neuzeitlichen Staat. Auf die Vervielfachung und Ausbreitung der Pastoraltechniken in Europa seit dem Mittelalter reagiert ein „Gegen-Verhalten“ (contre-conduite), das Foucault in seinen Vorlesungen als Kampf gegen die zum Fuhren von anderen eingesetzte Verfahren definiert und im Horizont auch gegenwartiger Praktiken des politischen Widerstands und der Dissidenz konzipiert. Der Beitrag geht der Frage nach, warum Foucault die Analyse des Gegen-Verhaltens auf mittelalterliche Formen der religiosen Dissidenz beschrankt und ihre zentrale Bedeutung fur die Entstehung von Widersetzlichkeit in den absolutistischen Staaten und der Herausbildung demokratischer ‚Mentalitaten‘ ignoriert. Revolte und Revolution lassen sich als ein Ineinander von hochausdifferenziertem publizistischem oder diskursivem Gegen-Verhalten und Praktiken seiner pastoralen Wiederaneignung (etwa im revolutionaren Jakobinismus) begreifen. Robert Darntons Untersuchungen zum literarischen Untergrund und zu den Kommunikationsnetzwerken im Paris des 18. Jahrhunderts werden als Beitrag zu einer Theorie der Revolte als diskursives Ereignis herangezogen. Die medialen Dynamiken des Gegen-Verhaltens erledigen die Vorstellung einer nur ihrer prapolitischen Not gehorchenden, ‚stummen‘ Bevolkerung (Hannah Arendt), die in zeitgenossischen Auffassungen der Bevolkerung als eines blosen Objekts biopolitischer Regulierung fortlebt.
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