Gernot Böhme: Leib. Die Natur, die wir selbst sind.:

2019 
Bereits im Titel der Publikation schickt Gernot Bohme die zentrale Arbeitsthese seines Buchs voraus: Leib. Die Natur, die wir selbst sind. Bohme, seit den 1980er Jahren ausgewiesener "Leibphilosoph", bezweckt mit dieser Definition nichts Geringeres, als die bisherige Leibphilosophie sowie den gegenwartigen Diskurs uber Natur zu korrigieren oder zumindest zu erganzen. Denn, Leib als Natur des Menschen zu begreifen, sei nicht nur folgenreich fur den Umgang des Menschen mit sich selbst qua Naturerfahrung, es andere auch den Diskurs uber Natur insofern, als dass diese nicht als rein auserlich begriffen, sondern "quasi von innen, namlich in unserer Selbsterfahrung" (S. 9) kennengelernt werden konne. Indem Bohme beide Diskurse uber die menschliche und die ausere Natur zusammenfuhrt, zielt er auf eine neue Praxis des Umgangs, "sowohl mit uns selbst als auch mit der auseren Natur" (S. 21) – wobei in beiden Fallen Natur eine Aufgabe sei, die entwickelt und praktisch eingeubt werden musse. Gernot Bohme schliest so an fruhere Arbeiten an, in denen er Leib philosophisch ergrundet und dabei Philosophie als Lebensform argumentiert, die nicht nur theoretisch gedacht, sondern auch konkret vollzogen werden konne. Als Teil einer praktischen Ethik konnen etwa auch vorherige Schriften wie Leibsein als Aufgabe (2003) und Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1985) gelesen werden. Hier nun versammelt Bohme einzelne Artikel zu Leib, Natur, Technisierung oder Atmospharen, die er zwischen 2003 und 2018 bereits in Sammelbanden und Journalen veroffentlicht hat und die er nun mit aktuellen Texten zu einer Argumentation zusammenschliest. So ist der Grundtenor des Buchs nicht neu; die einzelnen Kapitel lassen sich auch als lose Essays zur Einfuhrung in Bohmes Denken sowie zur weiteren Vertiefung lesen. In drei Kapiteln ("Einfuhrung", "Ethische Konsequenzen", "Asthetische Konsequenzen") fugen sie sich zu einem groseren argumentativen Bogen, der sich dank Bohmes sprachlicher Klarheit gut erschliest. Seine philosophischen Standpunkte illustriert er stets an konkreten alltagsweltlichen Beispielen. In der "Einfuhrung" erlautert Bohme seinen Leib-, Korper- wie Naturbegriff im Verhaltnis zum Selbst wie zum Raum und am Beispiel der Liebe. Er konstatiert, Menschen verstunden sich gegenwartig mehr uber ein Korper- denn ein Leibbewusstsein. Das Interesse an der eigenen Natur werde dominiert von einem naturwissenschaftlich-medizinischen Verstandnis des Korpers, dem "Blick des Anderen" (S. 42), dem Spiegel oder der Idee von Fitness, wahrend ein Bewusstsein fur den Leib, dumpf und unterschwellig vorhanden, erst aufgespurt und entwickelt werden musse. Dementsprechend scheidet Bohme Korper als "Natur des Menschen in Fremderfahrung" von Leib als "Natur des Menschen in Selbsterfahrung" (S. 41). Seinen Naturbegriff stellt Bohme dabei in die Tradition Aristoteles', der sich wiederum auf den Sophisten Antiphon beruft und Natur als das, "was von selbst da ist", "was uns Menschen gegeben ist" (S. 31), darlegt. Indem er Gegebenes (Natur) und Gemachtes kontrastiert, entwickelt Bohme Natur als Gegensatz von Technik, Kultur und Zivilisation. Dem Leib nahert er sich uber Konzepte von Rene Descartes, Edmund Husserl und Hermann Schmitz, um daran schlieslich den eigenen Leibbegriff zu scharfen. Wahrend Bohme am kartesischen Korper als res extensa die Objektivierung des menschlichen Korpers nach naturwissenschaftlichen Paradigmen, seine "entzauberte Vergegenstandlichung" (S. 24) kritisiert, kann er an Schmitz' Definition besser anschliesen. Dieser begreift Leib als leibliches Spuren, das einem in einem "absoluten Hier" (S. 28) widerfahre. Daran anknupfend definiert auch Bohme Leib als ein "Sich-Spuren" (S. 33), als etwas, das uns als zweierlei Selbsterfahrung gegeben sei – als Erfahrung des Selbst und als Erfahrung, die man selbst macht. Diese Erfahrung werde zur Naturerfahrung, wenn sie uns uberfalle oder "fremdartig beruhre" (S. 33); womit Bohme sein zentrales Anliegen, namlich Leib als "Natur, die wir selbst sind" zu denken, in seine Begriffsbestimmung hineingeholt hat. Leib als Natur sei dem Menschen vor jeder Reflexion gegeben. Es sei das Fremde im Selbst, das einem uberraschend, unheimlich oder fordernd entgegentrete und dennoch zugehorig sei. Man spure jene Fremdheit im Schmerz, beim Trinken oder im Atmen, wenn die Atmung nach langem Ausatmen "von selbst" (S. 13) erneut einsetze. Bohme fordert, die von ihm herausgearbeitete Spannung zwischen Natur und Selbst aufzulosen und im Leibsein das "eigene Natursein" (S. 38) zuzulassen. Damit weist Bohmes Definition einerseits in Richtung "einer Ethik leiblicher Existenz" (S. 30), sie hat andererseits aber – folgt man der Struktur der Publikation – ethische und asthetische Konsequenzen. Im zweiten Kapitel seiner Publikation buchstabiert Bohme die "Ethischen Konsequenzen" seines Leibbegriffs aus, wobei er die Medizinethik in den Blick nimmt. Ausgehend von der Beobachtung, dass Technik uns auf den Leib rucke, in diesen eindringe und als Dispositiv unser Verhaltnis zum Leibsein beeinflusse, fordert Bohme eine (leibliche) Selbstkultivierung. Ein Patient, der etwa mit invasiver Technisierung konfrontiert sei, musse in dieser Kultivierung unterstutzt werden, er musse "im eigenen Leibe zu Hause sein" (S. 78) und uber ein "existenzielles Wissen" (S. 88) um sich und seinen Leib verfugen. Nur so konne er mundig eine Therapieentscheidung mittragen und dabei eine leibliche Perspektive einbringen. Fur Entscheidungen im Fall von Organspenden oder Transplantationen – Bohme fuhrt hier die Herztransplantation des Philosophen Jean-Luc Nancy an – sei beispielsweise wesentlich, ob der Patient seine "Natur als kartesisches Korperding"(S. 88) oder aber als Leib begreife. Im Lauf des Kapitels tauchen diese Forderungen nach leiblicher Mundigkeit und einem wissenden Patienten immer wieder auf, ebenso umreist Bohme sein Leib- und Naturkonzept an verschiedenen Stellen. Wahrend letzteres zum vertiefenden Verstandnis der Begrifflichkeiten wie des Publikationsbogens beitragt, storen die medizinethischen Wiederholungen den Lesefluss eher. Hier wird deutlich, dass das Kapitel mehrheitlich von bereits erschienenen Texten getragen wird, die zunachst nicht zusammenhangend konzipiert waren. Im dritten und letzten Kapitel entfaltet Gernot Bohme die "Asthetischen Konsequenzen", die sich aus einer Naturerfahrung als Leiberfahrung ergeben, schlussig und anhand von konkreten Beispielen. Ausgehend von Goethes Naturwissenschaft, vornehmlich der Farbenlehre und Meteorologie, verweist er auf die leiblich-sinnliche Erfahrbarkeit von Natur, die auch Goethe im Blick gehabt habe. Bohme grenzt sich hier von seinem eigenen Lehrer, dem Philosophen Carl Friedrich von Weizsacker ab, der im Nachwort zu den Naturwissenschaftlichen Schriften der Hamburger Goethe-Ausgabe Positionen der Farbenlehre als irrig bezeichnet hatte. Im Unterschied dazu historisiert Bohme Goethes Naturwissenschaft als Ausdruck eines neuzeitlichen Naturverstandnisses, um sie im historischen Kontext verstehbar zu machen und fur die Gegenwart zu rehabilitieren: Denn das Naturverstandnis Goethes strebe nach sinnlicher Erkenntnis einer nicht-objektivierbaren Wirklichkeit und sei damit nicht nach modernen naturwissenschaftlichen Masstaben abzuwerten, sondern ermogliche vielmehr, "Erscheinungen der Natur" (S. 123) jenseits der Ratio leiblich zu erfahren; – hier wie an anderen Stellen macht Bohme explizit, dass Leib, Natur und die an sie geknupfte Erfahrung weder anthropologisch invariant noch historisch konstant sind; eine historisierende Perspektive, die die Publikation noch starker durchziehen durfte. Anschliesend an Alexander Gottlieb Baumgartens Asthetikverstandnis als Theorie sinnlicher Erkenntnis (Aesthetica, 1750/58) und abermals in Rekurs auf Hermann Schmitz entwickelt Bohme eine Umweltasthetik bzw. eine okologische Asthetik, die menschliches Befinden in der Umwelt als leibliches "In-Sein" und damit die subjektive Rezeption von Natur betont. Wolken werden so zu Tragern und Erzeugern einer Witterungsstimmung, Wetter auch in "affektiver Betroffenheit" (S. 152) wahrgenommen und mit Gefuhlsvokabeln attribuiert ("heiterer Morgen", "dusterer Tag", S. 141). Tone, Stimmen und Gerausche sind Teil von Atmospharen, die emotional aufgeladen sind und sich – teilweise mit dem Horenden – in den Raum ergiesen konnen. Gernot Bohme pladiert also letztlich dafur, eine subjektive, leibliche Perspektive auf die (Um-)welt einzuziehen und Kunstwerke durch die leibliche Anwesenheit umfanglich zu erfahren. Umso bedauerlicher, dass Bohme seine okologische Asthetik anhand von Malerei, Skulptur und Klanginstallationen exemplifiziert, im Bereich von Theater als Kunst aber beim Buhnenbild und Dramentext haltmacht. Passiert Theater in seiner Spezifik doch gerade dann, wenn Spielende und Zusehende (oder mit Bohme: Erfahrende/Rezipierende) leiblich prasent sind. Diese leiblichen Ko-Prasenz einzubeziehen, ware ebenso lohnenswert, wie den Theaterraum mit Bohmes Umweltasthetik als leiblichen Raum zu denken. Seine These, dass leibliches Spuren etwa durch Gegenstande in die Weite gedehnt werde, konnte fur theateranthropologische Forschungen zu Maskentheater fruchtbar gemacht werden. Dass Leiblichkeit in Theatertexten wiederum immer wieder zum Thema wird, verdeutlicht Bohme aufschlussreich anhand von Mozarts Zauberflote, Dramentexten von Goethe oder Buchners Woyzeck, dessen Titelfigur das Aufdrangen des Leibs beklagt: "Aber Doktor, wenn einem die Natur kommt" (S. 35). Diese Naturerfahrung – am und durch den eigenen Leib – ins Spiel zu bringen und damit die Perspektive jenseits der Definition des Menschen als animal rationale, der sich qua seiner Vernunft heraushebt, zu verschieben, ist das grose Verdienst der Publikation.
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