Evidenzbasierte Leitlinien, Anspruch und Wirklichkeit

2016 
Mit der Konzeption der «Evidenzbasierten Medizin» und den «Evidenzbasierten Leitlinien» soll mithilfe von Formalisierungsprozeduren die arztliche Irrtumsanfalligkeit kalkulierbar gemacht werden. Quantifizierte objektive Aussagen uber die therapeutische Wirksamkeit einer Behandlung sollen die individuelle arztliche Beurteilung der therapeutischen Wirksamkeit uberflussig machen. Damit kommt der Befolgung von formalen Regeln die entscheidende Rolle bei der Beantwortung der Frage nach dem Wahrheitsgehalt und dem Wirklichkeitsbezug zu. Im Rahmen evidenzbasierter Leitlinien werden vorrangig die Ergebnisse randomisierter kontrollierter Studien (RCT) oder Meta-Analysen solcher Studien herangezogen. Am Beispiel der S3-Leitlinie «Malignes Melanom» wird hier eine evidenzbasierte Urteilsbildung zur Wirksamkeit einer unkonventionellen Therapie - hier mit einem Mistelpraparat - analytisch nachvollzogen. Die fur die Beurteilung dieser unkonventionellen Therapie herangezogene randomisierte Studie wird genauer methodisch analysiert. Obwohl sie keine statistisch basierte Aussage zulasst, wurde eine Leitlinienempfehlung auf Basis dieser Studie abgeleitet. Es wird gezeigt, dass 1) allein die Existenz einer einzigen RCT mit hoher Evidenz gleichgesetzt wird, 2) die Ergebnisse trotz betrachtlicher Fehlinterpretationen in eine S3-Leitlinie einfliesen und 3) Meinungen anstelle kritischer wissenschaftlicher Analysen verarbeitet werden. Unsere Untersuchung zeigt, dass noch so ausgefeilte epistemologische und methodologische Formalien den Arzt nicht von der Pflicht entbinden, auf Basis seiner arztlichen Erfahrung und professionellen Kompetenz den Realitatswert der ihm zur Verfugung stehenden Information zu beurteilen.
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