Das religiöse Urteil und die Glaubensvorstellungen
2003
Sowohl bei dem Paul- als auch dem Hiob-Dilemma ist der Anteil der zweiten Entwicklungsstufe erstaunlich hoch. Es wurde ja bereits auf das Verantwortungsgefuhl der Finnen auch in bezug auf die Religion hingewiesen. Vielleicht spiegelt sich dadurch einiges von dem im Volke lebendigen Protestantismus wider. Ende 2000 zahlten 85% der Gesamtbevolkerung von Finnland zur evangelisch-lutherischen Kirche (Kirkon tilastollinen vuosikirja 2001, 10). Nach Schatzungen von Heino (1993) wird die Kirche immer noch fur einen Moralisten gehalten, der die Menschen daran erinnert, was angemessen ist und was nicht. Vermutlich liegt er dabei nicht falsch, wenn man das von den Vertretern der zweiten Stufe vermittelte Gottesbild betrachtet. Die auffallig grosen Anzahlen der dritten Stufe bei den Ergebnissen dieser Untersuchung, die auf Interviews von aktiven Kirchenmitgliedern beruht, liegen noch hoher als erwartet. Dies kann durch die Vielzahl der Formen von Religiositat auf der dritten Stufe erklart werden, vom Atheismus bis zum Fundamentalismus, wie auch Oser und Gmunder feststellen (1988, 86). Aufgrund dieser vorliegenden Ergebnisse last sich leicht der zweifachen Auslegung der dritten Stufe durch Schweitzer und Bucher (1989, 141) zustimmen. Danach stellt die religios ausgerichtete dritte Stufe eine naturliche Phase der Entwicklungs des Individuums auf dem Weg zur nachsten Stufe dar. Die nicht-religios ausgerichtete dritte Stufe ist der Endpunkt einer Entwicklung. Bei meiner Untersuchung wurde die dritte Stufe eben ausdrucklich die ausreligios gerichtete Entwicklungsstufe ausmachen, wobei es sich sehr wohl z. B. um das Auseinandergehen von kirchlicher und personlicher Religiositat handeln konnte. Dies unterstutzt meine These von der Privatisierung der Religiositat, insbesondere bei Mannern. Der Gesamtanteil der dritten Stufe last sich auch von der lutherischen Zwei-Regimentlehre her erklaren. Die Einteilung in ein irdisches und geistiges Regiment, in diesseitige und jenseitige Angelegenheiten, wird den auffallig grosen Anteil der dritten Stufe zumindest nicht senken. Bei ihren Uberlegungen uber den Unterschied zwischen der Transzendenz und der Immanenz betonen Oser und Gmunder (1988, 35) die Verbindung der religiosen Reife mit der religiosen Weltanschauung. Je hoher die religiose Entwicklung ist, umso dringender benotigt man eine Auslegung der jeweiligen Situation nach den Kriterien des religios-metaphysischen Weltbildes, die auf die Betrachtung der Welt als einer Ganzheit in unterschiedlichen neuartigen Situationen beruhen. In Finnland last sich allem An-schein nach die Integration der religiosen Dimensionen hinsichtlich der lutherischen Regimentlehre nur schwer auffassen. Hinzu kommt die Frage nach der Universalitat der Entwicklung der religiosen Struktur und nach deren unveranderlicher, die Kulturgrenzen uberschreitender Entwicklungslinie. Die Resultate dieser Untersuchung unterstutzen mit gewissem Vorbehalt die Auffassung, nach der die Entwicklung der religiosen Struktur in verschiedenen Kulturen gleichartigen Gesetzmasigkeiten unterliegen wurde. Die Hinweise auf die Kulturverbundenheit religioser Auserungen werden gleichfalls zu einem gewissen Punkt durch das finnische Material bekraftigt. Die Kulturverbundenheit kann im Hintergrund geschichtlicher Ereignisse betrachtet werden. Die finnische Gesellschaft und damit verbunden auch das Weltbild und die Religiositat der Finnen gerieten gegen Mitte der 60er Jahre in eine Ubergangsphase. Die Urbanisierung beschleunigte sich, und die traditionelle Agrarkultur begann sich aufzulosen. Mit der Zunahme der Arbeitstellen in der Industrie entstanden immer dichter bewohnte Siedlungen. Im Zusammenhang mit dieser Entwicklung anderte sich auch das religiose Weltbild allmahlich. Die Veranderungen in bezug auf die Religiositat geschahen zumindest anfangs langsam, denn z. B. noch in der Mitte der 70er Jahre erwahnte Pentikainen (1975, 92), folgende Termini als allgemein gebrauchlich fur die finnische Lebensart: "The Finnish way of life and Finnish world view." Laut Heino (1993, 32) bezeichnen die Worter Unverbundenheit, Privatisierung und Synkretismus die Veranderung in der Religiositat der Finnen in den letzten Jahren. Den Statistiken zufolge zeigt sich auch im religiosen Leben das Streben nach Individualitat und Unabhangigkeit. Das Nebeneinander vieler Religionen verblufft ebenso. Diese von Heino beschriebene Lage der letzten Jahre kann als der Endpunkt des in den 60er Jahren begonnenen Entwicklungsprozesses angesehen werden. Aus der Perspektive der religiosen Entwicklung stimuliert die Umwelt nicht gerade die Entstehung eines reifen religiosen Denkens. Im Jahre 1967 waren die Befragten meiner Untersuchung im Alter von 23-37 Jahren. Das man sich an das Weltbild der Jugend festklammert, kann sehr wohl eine Erklarung fur den Stillstand der religiosen Entwicklung auf der zweiten oder dritten Stufe sein. Holm (1990, 26-27) schrieb, wie unsere Kultur dazu neigt, religiose Auffassungen als recht kindlich hinzustellen. Manch einer mag glauben, das es bei religiosen Fragen nicht wie ublich erlaubt ist, seinen Uberlegungen freien Lauf zu lassen. Es gilt, entweder den naiven Kindesglauben aufrechtzuerhalten oder seinen Glauben ganz aufzugeben. Holm betont, das eine starke bewuste Arbeit notig ist, um fruh erlernte Uberzeugungen verarbeiten, sich neu zu orientieren und sich weiter zuentwickeln. Steht solch ein Prozes erst an den Anfangen oder ist er vielleicht noch nicht abgeschlossen? Zu Beginn meiner Untersuchung wurde die Hypothese aufgestellt, das die eigenen Erfahrungen eventuell in einer Verbindung mit der Entwicklungsstufe des religiosen Urteils stehen. Die Hypothese erwies sich als falsch. Die Ergebnisse meiner Untersuchung sind eigentlich recht logisch. Diesen Resultaten zufolge besteht kein Zusammenhang zwischen einem religiosen Dilemma im eigenen Leben und einer hohen religiosen Entwicklungsstufe. Eigene Erfahrungen uber religiose Dilemmata oder Leiden fordern den Entwicklungsprozes keineswegs. Diese Ergebnisse konnen als Stutze grundsatzliche Annahme strukturalistischer Theorien angesehen werden, d.h. die Annahme einer invarianten Sequenz. Die Stufen konnen nicht uberschritten werden, sondern man unterliegt der immanenten Logik der Transformationen der Strukturen. Sie bekraftigen auch die von Kohlberg (1984, 8) erwahnte grundsatzliche Vermutung der kognitiven Theorie, wonach die Entwicklung kognitiver Strukturen das Resultat des Interaktionprozesses zwischen der Struktur des Organismus und der Struktur der Umwelt ist und nicht so sehr das Ergebnis von Lernen und Reifung. Welche Rolle die Umwelt und das Lernen bei der religiosen Entwicklung spielen, bleibt noch bei umfangreicheren Projekten in der Zukunft zu untersuchen.
Keywords:
- Correction
- Source
- Cite
- Save
- Machine Reading By IdeaReader
3
References
1
Citations
NaN
KQI